Sehen ist immer individuell
Sehen kann ganz viele Facetten haben, davon erzählte ich bereits in meinem Beitrag: Nichts zu sehen. Heute gibt es hierzu nochmals einen Beitrag. Allerdings nicht von mir, sondern von Dieter Kleffner. Er hat mal wieder einen Gastbeitrag für mich zur Verfügung gestellt. Mit anderen Worten er wird dir erzählen wie er dieses Thema betrachtet, und dabei spricht er mir voll aus der Seele! Viel Spaß beim Lesen.
Ein altes Kinderspiel: „Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Zwei sehbegabte Menschen blicken in dasselbe Umfeld. Der Erste nimmt dabei ein beliebiges Objekt ins Visier und der Zweite muss erraten welches Objekt der Erste erwählt hat. Das Spiel macht insofern Sinn, dass die Beobachtungsgabe, anders gesagt, der Blick fürs Detail geschult wird.
Der Titel des Spiels: „Ich sehe was, was du nicht siehst“, ist in diesem Zusammenhang falsch definiert. Denn beide sollten zumindest das zu erratende Objekt sehen. Die Begabung des optischen Sehens besteht darin, dass mit Hilfe der Augen das Licht im Gehirn auf subjektive Weise bildhaft dargestellt wird. Zwei Menschen, die in dieselbe Richtung schauen, entwickeln in ihrem Kopf nur ähnliche Bilder. Die Wahrnehmung der Schärfe und Farbe der Bilder ist ebenfalls von der individuellen Wahrnehmungsfähigkeit abhängig. Doch die Wahrnehmung weicht noch weiter ab, wenn wir bewegte Bilder betrachten. Zum Beispiel bei der Betrachtung einer komplizierten Situation, wie einem Unfallhergang mit mehreren Beteiligten. Hier weichen die Aussagen der Augenzeugen immens ab.
Sehen oder wahrgenommen?
Noch weitere Abweichungen in den bildhaften Beschreibungen entstehen, wenn sich zwei oder mehrere Menschen an ihre Urlaubsbilder erinnern. Niemand hat die Fähigkeit, die Bilder einer Reiseroute mit allen Details so abzuspeichern, dass diese wie in einem Video wiedergegeben werden kann. In der Erinnerung an die Reiserute entsteht subjektiv keine Lücke. Unser Gehirn lässt keine Bilder mit Grauzonen zu. Erinnerungslücken werden mithilfe der Fantasie geschlossen. Das bedeutet, dass die Erinnerungen eines Sehenden an eine Reiserute zu hohem Prozentsatz nur seiner Fantasie entsprechen. So füllen Menschen, die eine Zeit lang gesehen haben und anschließend erblinden, ihr Nichtsehen grundsätzlich mit Bildern der Erinnerung und Fantasie aus.
Sehen und / oder Hören
Höre ich als Blinder eine menschliche Stimme, Vogelgesang oder ein Motorengeräusch, erschafft die Fantasie ein passendes Bild. Erst mit zunehmenden Informationen korrigiert das Gehirn diese Bilder, um der Realität noch näher zu kommen. Die Angst vor dem Sehverlust beinhaltet die Sorge, künftig in ein Nichts zu schauen. Schließt der Sehende die Augen, so ist das reale Bild verdeckt. Doch wie lange ist dieser Sehende in der Lage, trotz geschlossener Lider nichts zu sehen?
Kann unser Gehirn sehen?
Das Gehirn holt nach kurzer Zeit Informationen über die übrigen Wahrnehmungsquellen ein. Geräusche rufen Bilder (Erinnerungen) auf. Ebenso Gerüche. Erst recht der Tastsinn. Klar, alle Informationen über diese übrigen Sinne können das Sehen nicht ersetzen. Dennoch sie lassen uns auf keinen Fall in einem schwarzen Nichts zurück.
Praktisches Beispiel für tägliche Fantasiebilder schafft das Telefonieren. Dank unserer Fantasie, erhält ein unbekannter Gesprächsteilnehmer ein Gesicht, eine Gestalt. Je länger das Gespräch, umso detaillierter sehen wir diese Person. Sehen? In der Realität wird diese Person natürlich nicht annähernd so aussehen. Doch unser Gehirn ist mit diesem vollständigen Bild im Moment zufrieden.
Wie war das Sehen am Ende des Tages?
Wenn ich als Vollblinder des Abends auf den Verlauf meines Tages zurückblicke, kann ich mich nicht erinnern, nicht gesehen zu haben. Da ich mich an meine Situation gewöhnt bin ist das Nichtsehen nicht präsent. Was nicht präsent ist, kann auch nicht belastend wirken. Das soll nicht bedeuten, dass mir mein Sehverlust leicht gefallen ist, dass ich mein Sehen nicht vermisse. Doch mittlerweile habe ich mich von meiner Trauerzeit verabschiedet.
Eine Betrachtung von Dieter Kleffner (59),
blinder Buchautor aus Hattingen NRW.
Davids Schlusswort: Das mit dem Sehen ist echt so eine Sache: Das Selbe erblicken, heißt noch lange nicht, dass Gleiche interpretieren. Das Sehen ist eine ganz individuelle Sache und hängt von vielen Faktoren ab. Blind oder sehend: Die Bilder entstehen am Ende immer im Kopf!
Eines möchte ich noch hinzufügen: Im Gegensatz zu Sehenden kann ich hinter mich „schauen“ ohne den Kopf drehen zu müssen! Denn mein Fokus ist nicht auf meine Blickrichtung festgelegt. Oder anders gesagt, die Ohren „sehen“ ringsum! Klar, das könntest du natürlich auch, doch nutzt du diese Fähigkeit? In diesem Sinne: Augen auf! Es gibt viel zu entdecken, sogar mit den Ohren. Probiere mal aus!;-)
Hallo David, Hallo Dieter,
Obwohl ich mich aufgrund meiner Schwerhörigkeit als Augenmensch bezeichnen würde überrascht mich mein Neffe immer wieder bei „ich sehe was“ mit den Details die er beobachtet.
Dafür fasziniert es mich immer wieder wie gut andere hören. Oder einordnen können woher ein Geräusch kommt.
Ich fand deine Erklärung interessant warum zb Augenzeugen so unterschiedlich sich erinnern. Ich dachte das liegt an der Aufregung (klar, dass ist bestimmt auch so, aber wohl nur ein Grund).
Als Kind habe ich meinen Opa immer für eine Art Zauberer gehalten – er zeigt an den Himmel wo nix zu sehen ist und sagt „da kommt ein Flugzeug“ und einen Moment später war genau dort eine Maschine.
Blödsinn machen, was vor Opa geheim halten ging natürlich auch nicht.
Natürlich wusste ich er hört mich, aber es fühlte sich immer „magisch“ an. Auch wenn ich als Kind noch gut gehört habe, Opa hörte mehr.
Ich bewundere die Fähigkeit sich übers Gehör zu orientieren noch heute sehr.
Und finde es tröstlich, das auch „schwarzblind“ nicht so finster ist wie ich es erwartet habe.
Da hilft die Fantasie des Gehirns doch.
Liebe Grüße, Eva
Liebe Eva, vielen Dank für deinen Kommentar, und für deine interessanten Einblicke in deine Welt oder Wahrnehmung!
Liebe Grüße David