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Gepostet on Okt 18, 2016 in Allgemeine Themen | 1 Kommentar

Sehbehinderung: Der Streuselkuchen in der Optik

Sehbehinderung: Der Streuselkuchen in der Optik

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In den letzten beiden Beiträgen hab ich versucht dir zu erklären, wie es sich für mich anfühlt blind zu sein. Heute möchte ich dir Bettina vorstellen: Sie ist eine liebe Freundin und hat sich angeboten meinen Blog durch einen Gastbeitrag zu bereichern. Bettina ist Hausfrau, glücklich verheiratet und Mutter von drei Söhnen. Trotz ihrer Sehbehinderung ist sie eine positive Person und liebt das Leben. Ich halte sie für eine talentierte Schriftstellerin, die tolle Texte verfasst, was du im Anschluss noch feststellen wirst.

Nicht blind, nicht sehend – Meine Sicht auf die Welt und die Gefühle

erfasst von Bettina am 07. Oktober 2016

David hat mir angeboten, mich mit einem Gastbeitrag an diesem Blog zu beteiligen. Gerne nehme ich sein Angebot an und erzähle Dir etwas darüber, wie es ist, nicht blind und nicht sehend zu sein. Und darüber, wie sich das anfühlt.

Wie ich die Welt sehe

„Wie bitte? Was behauptet sie da? Wenn sie nicht blind ist, dann sieht sie doch was!“ So ähnlich könnte dein Einwand lauten. Ja, ich sehe etwas. Aber eben sehr, sehr wenig. Und das ist noch schwerer vorstellbar als völlige Blindheit, stimmt`s?

Wenn du dich in David hineinversetzen möchtest, dann schließe deine Augen und verrichte irgendeine deiner gewohnten Tätigkeiten mit fest verschlossenen Augen, also im Stockdunkeln. So bekommst du eine Ahnung davon, mit welchen Problemen er sich auseinandersetzen muss. Du hast den Vorteil schummeln zu können oder einfach deine Augen wieder zu öffnen. Das kann David nicht!

Möchtest du dich hingegen in meine Lage versetzen, wird es richtig verzwickt. Bei mir geht, vereinfacht gesagt, die Netzhaut nach und nach kaputt. Kein Arzt weiß, wie man diesen Prozess stoppen könnte. Es gibt auch keine Therapie, um die Netzhaut zu heilen, also die kaputten Teile wieder funktionsfähig zu machen. Das bedeutet: Mein Sehvermögen nimmt mehr und mehr ab. Wie beziehungsweise was sehe ich nun?
Stell dir vor du hast einen fetten Streuselkuchen direkt vor deinen Augen. Zwischen den Streuseln gibt es ein paar kleine Löcher, die dir noch ein wenig Sicht ermöglichen. Unternimmst du eine Reise in meine Vergangenheit, erkennst du viele große Löcher und wenige Streusel. Anfangs sah ich damit noch ziemlich gut. Allerdings streut der Bäcker unablässig weitere Streusel auf den Kuchen. Die Anzahl und die Größe der Löcher nehmen also beständig ab.

Wenn du dir jetzt noch ein ungleichmäßig gewölbtes Glas vor den Löchern vorstellst, durch das du die Bruchstücke deiner Umgebung verzerrt wahrnimmst, und dir bewusst machst, dass dein Gehirn all die kleinen verzerrten Puzzlestückchen irgendwie zu einem windschiefen, zerrissenen Bild zusammensetzt, kommst du dem, was ich sehe, schon sehr nahe. Oder dem, was ich eben nicht sehe. Alles klar? Oder doch nicht?

Was ich (nicht) sehe

Ich sehe Umrisse. Ich sehe Farben. Ich sehe sogar kleine Fusseln auf den Fliesen. Also sehe ich doch alles? Nein! Ich brauche viel Licht, um die Farben wirklich zu erkennen. Und selbst dann sind sie weit weniger leuchtend als früher. Manchmal sehe ich trotzdem die falsche Farbe. Um Umrisse, Kanten oder Tiefen wahrzunehmen brauche ich starke Kontraste. Für ein dreidimensionales Bild reicht mein Sehvermögen schon lange nicht mehr aus. Wie ist das nun mit dem kleinen Fussel?

Den kann ich sehen, wenn er sich zufällig genau vor einem Loch im Streuselkuchen befindet. Dann versuche ich, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Aber die kleinste Bewegung genügt, schon ist das Guckloch verrutscht und wenn ich den Fussel greifen möchte, ist er verschwunden. Wie der Hase im Hut des Magiers. Es tauchen ständig kleine Dinge auf und verschwinden wieder.

Schmiegen sich ähnliche Farben aneinander, verschmelzen diese zu einer Farbe und so manches versteckt sich darin vor mir. Das blaugraue Auto auf der Straße. Die Apfelspalten im Vanillepudding. Der rotbraune Hund auf dem braunen Teppichboden. Die grüne oder blaue Wäscheklammer im Gras. Ich sehe nur eine große farbige Fläche. In solchen Fällen nützen mir auch die verbliebenen „Gucklöcher“ in meinem Streuselkuchen nichts.

Dort, wohin ich meinen Fokus richte, sehe ich absolut nichts. Im Zentrum, dem Bereich scharfen Sehens gibt es kein einziges Guckloch mehr für mich. Also kann ich dir nicht in die Augen schauen. Doch, schauen schon, aber ich sehe halt nur ein unbestimmtes Nichts. Das ist irritierend! Es fühlt sich komisch an, irgendwie falsch, so als wolle ich etwas verbergen. Dabei bleibt in Wahrheit etwas vor mir verborgen! Apropos fühlen!

Wie fühlt sich das an, schlecht zu sehen? Immer weniger zu sehen?

Da fallen mir eine ganze Reihe an Gefühlen ein! Spontan würde ich antworten: Es fühlt sich an, als fehle etwas, wie eine Lücke. Dir wird etwas Stück für Stück genommen und du weißt, es ist unwiderruflich fort. Dieser Verlust tut weh. Stimmt dich traurig. Er verunsichert dich, weil du immer wieder vor neuen Schwierigkeiten stehst und nicht weißt, was dir in der Zukunft blüht.

Du weißt nicht, wann dir das nächste Guckloch weggenommen wird. Du weißt nicht, wie viele Gucklöcher dir weggenommen werden. Du weißt nur, du könntest am Ende vollkommen blind sein. Das haben dir die Ärzte gesagt. Diese Aussage lastet wie ein Fluch auf dir, sie macht dir Angst, sie macht dich wütend. Und manchmal bist du wirklich verzweifelt.

Was du nicht weißt, ist, warum es dir weggenommen wird. Es passiert. Einfach so. Du hast keine Macht darüber und genauso fühlst du dich auch: Machtlos. Hilflos. Ein bisschen wie die Fliege, der von einem Kind nach und nach die Beine ausgerissen werden. Nur, dass es sich bei dir um weit mehr als sechs Beine handelt. Du versuchst, mit der veränderten Situation klarzukommen und dann ändert sie sich schon wieder. Es fühlt sich an wie ein nie endender Kampf.

Ein Kampf, den du ganz alleine durchstehen musst. Ein Kampf, bei dem du dich jedes Mal wie ein Verlierer fühlst. Ein Kampf, der an deinem Selbstwertgefühl kratzt und nagt. Und ganz nebenbei musst du dich mit den immer neuen Widrigkeiten in deinem Leben auseinandersetzen. Mit den Einschränkungen und mit dem Unverständnis.

Wieder und wieder muss ich anderen erklären, warum ich das eine sehe und das andere nicht. Muss mich damit abfinden, dass kein anderer das wirklich nachvollziehen kann. Muss mir dumme Kommentare anhören, wenn ich mal wieder jemanden nicht gesehen, nicht erkannt habe. Die normal Sehenden tun sich schwer damit, zu begreifen, wie es mir ergeht. Die meisten völlig blinden Menschen vermutlich auch. Aber da gibt es schließlich noch diejenigen, deren Sehvermögen ebenfalls allmählich dahinschwindet.

Ja! Die gibt es. Wir haben eines gemeinsam: Jeder von uns muss erklären, was er sieht und was nicht. Und zwar jedem anderen von uns. Denn jede einzelne Augenerkrankung verläuft anders, äußert sich anders. Vielleicht kennt man jemanden, der in etwa mit denselben Auswirkungen konfrontiert ist. Dann fühlt man sich wenigstens nicht ganz allein. Oder man hat eine ganz seltene Variante, sowas wie einen Sechser im Lotto. Damit hat ein Augenarzt meine Art der Netzhauterkrankung verglichen. Deswegen fühle ich mich manchmal wie eine Außerirdische, eben sehr, sehr einsam.

Allein auf einem fremden Planeten – und jetzt?

Zugegeben, eine Sehbehinderung macht etwas mit dir: Sie bremst dich aus. Sie verhindert Spontanität und Flexibilität. Sie hemmt den sozialen Kontakt und beraubt dich unzähliger Möglichkeiten! Und bei alledem fordert sie dich ständig heraus, bringt dich an immer neue Grenzen. Aber keiner sieht, was du leistest. Klar, keiner kann sich vorstellen, um wie viel schwieriger es ist die gleichen Dinge mit viel weniger Sehvermögen zu tun! Du bist verbannt in eine andere Welt und du fragst dich, was du tun sollst.

Entweder den Kopf in den Sand stecken und aufgeben, weil sich alles nur noch schlimm anfühlt. Sich selber aufgeben? Ja, auch ich habe solche Momente. Ich fühle mich deprimiert und hadere mit meinem Schicksal. Aber ich weiß auch, dass mich diese Gefühle nicht weiterbringen. Davon wird es nicht besser!
Also rappele ich mich eins ums andere Mal wieder auf. Tue Dinge, die ich (noch?) tun kann. Auch die, die mir nicht so viel bis gar keinen Spaß machen. Einfach nur, um mir zu beweisen, was mit fünf Prozent Sehvermögen noch alles möglich ist. Natürlich auch um meiner Umgebung nicht ständig mit meinen Anliegen auf den Wecker zu gehen. Außerdem suche ich mir bewusst Dinge, die mir Freude bereiten. Welche Dinge das sind?

Oh, da gibt es so einige. Zum Beispiel tauche ich ein in andere Welten. Welten ohne Sehbehinderung. Früher war ich ein Bücherwurm, heute höre ich mir die Bücher eben an. Ich drehe das Radio auf und singe lauthals mit. Ich lasse mich von der Sonne streicheln. Ich trinke eine Tasse meines Lieblingstees. Ich führe tiefschürfende bis aberwitzige Gespräche mit meinem jüngsten Spross.

Ach ja; Ich habe mir ein neues Hobby auserkoren: Das Schreiben! Wann immer ich etwas Zeit dazu finde, schreibe ich kurze Kindergeschichten und witzige Betrachtungen rund um die lieben Kleinen. Eines meiner nächsten Projekte: Ein umfangreicher Roman. Ein weiteres Produkt dieser meiner Leidenschaft hast du soeben hier im Netz entdeckt.

Schlusswort von David:
Danke Bettina für deinen Beitrag: Ich für meinen Teil habe wieder etwas dazugelernt, zumindest so viel, dass ich nicht mit dir tauschen möchte. Ich denke das beruht auf Gegenseitigkeit. Jeder hat seine Schwierigkeiten und am Ende bleibt einem immer nur eines: Das Beste daraus zu machen!

Eines möchte ich vielleicht an dieser Stelle noch sagen: Wäre es nicht toll, wenn wir mehr Verständnis füreinander aufbringen und mehr aufeinander zuzugehen würden? Ich würde es jedenfalls sehr begrüßen wenn sich niemand als Außerirdischer fühlen müsste!

Falls dir dieser Beitrag gefallen hat, würde ich mich sehr über einen Kommentar von dir freuen, aber auch für Kritik und Anregungen bin ich offen. Solltest du ebenfalls Lust auf einen Gastbeitrag bekommen haben, etwas zum Thema Blindheit oder drum herum beitragen können, lass es mich wissen. Ich würde mich freuen wenn das keine Einbahnstraße bleibt! 🙂

Bis dahin: „Keep smiling“! ☺

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1 Kommentar

  1. Hallo David,

    ich heiße Ingrid bin auf deine Seite aufmerksam geworden durch einen Link von Katrin Rode und es war an diesem Tag auch noch Lustig habe einen Kommentar dazu geschrieben und war der Meinung es wäre ihr Mann, antwortete dann auf meinen Kommentar und stellte es dann richtig. So kann es einem als sehenden gehen wenn man nur flüchtig liest.
    Deine Seite finde ich toll auch den Beitrag von Bettina .
    Mein Mann hat das gleiche Augenleiden wie Bettina er ist schon auf ein Auge blind das andere Auge hat noch 5 Prozent.
    Bettina trifft es auf den Punkt ( Streuselkuchen ) mein Mann nennt es Teesiep das verstopft ist.

    Wünsche dir und deiner Familie ein FROHES GESUNDES NEUES JAHR

    Liebe Grüße

    Ingrid Magar

    Ps: schaue dann noch mal rein

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