Pages Menu
Categories Menu

Gepostet on Apr 6, 2018 in Allgemeine Themen, Wissenswertes | 1 Kommentar

Punktschrift lernen, ein Erfahrungsbericht

Punktschrift lernen, ein Erfahrungsbericht

Gefällt dir mein Beitrag? Dann teile ihn doch!

Punktschrift lernen, ein Erfahrungsbericht.

Wie lange braucht man um die Punktschrift zu erlernen? Heute hab ich mal wieder einen Gastbeitrag von Bettina für dich. Sie wird dir einen Einblick darin geben, wie lange und mühselig das Erlernen der Punktschrift im Erwachsenenalter ist. Dabei wird jedoch besonders deutlich, dass man mit genügend Ehrgeiz, Disziplin, und Motivation so manches erreichen kann! 😉

Sechs Punkte in sechs Monaten.

Vorbemerkung: Normalerweise lernt ein Kind schreiben und lesen, wenn es in die Schule kommt. Doch wo lernt eine erwachsene Person das Lesen und Schreiben neu, wenn sie aufgrund einer Sehbehinderung zum Analphabeten geworden ist? Wie kann sie sich die Brailleschrift aneignen? Meine Antwort darauf lautet: Zuhause! Und von dieser Erfahrung handelt der folgende Text.

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…

„Hey, ich kann schon ‚Laubbaum‘ lesen!“, rufe ich voller Begeisterung und ernte schallendes Gelächter. Es ist Mitte Oktober und wir sitzen zu viert in der Küche, meine Kinder und ich. Was die drei so überaus belustigend finden, soll mir künftig zu einem besseren Überblick verhelfen: Ich erlerne die Punktschrift – und das unter erschwerten Bedingungen.

Denn auch wenn die Küche wie ausgestorben wirkt, während ich abspüle, füllt sie sich augenblicklich mit Leben, sobald ich in Ruhe meine Übungen im „Lehr- und Lesebuch der Blindenschrift für Späterblindete“ machen möchte. Die Kinder verschwinden erst wieder wie von Geisterhand, wenn ich sie auffordere, in dem Schwarzschrift-Begleitheft meine Lesekünste auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen.

Besonders zu Anfang ist das wichtig, denn da gilt es, sinnfreie Aneinanderreihungen der wenigen Buchstaben, die ich bereits erlernt habe, richtig zu ertasten. Die größere Herausforderung besteht nämlich nicht darin, mich an die korrekte Lage der Punkte für einen bestimmten Buchstaben zu erinnern, sondern darin, sie mit den Fingerkuppen zu erkennen.

Um sicherzustellen, dass mir das gelingt, verdonnere ich eines meiner Kinder zur Mithilfe. Meist erwischt es den Jüngsten. Zum einen, weil er als Grundschüler schon mittags nach Hause kommt, zum anderen, weil er derjenige ist, der bei den Hausaufgaben auch gerne von mir die Bestätigung einholt, alles richtig gemacht zu haben. Doch seine Einsicht schwindet mit den Wochen dahin. Mein Eifer nicht. Was ich mir vorgenommen habe, das möchte ich durchhalten!

Durchhalten, durchhalten und nochmals durchhalten.

So sitze ich Tag für Tag am Küchentisch und folgere aus der vorhandenen oder eben nicht vorhandenen Sinnhaftigkeit des Gelesenen auf meine Tastfertigkeit. Die schwankt von Mal zu Mal beträchtlich. Kein Wunder, wenn ich bedenke, was meine Finger den lieben langen Tag alles aushalten müssen. Sie tauchen tief ins Spülwasser ein und untersuchen Geschirr und Besteck auf Schmutzreste. Sie überprüfen gebügelten, heißen Stoff auf Falten. Sie ertasten die Schalenreste an Kartoffeln, die meinen Augen verborgen geblieben sind. Überall da, wo ich mit meinem Sehrest von fünf Prozent scheitere, ist mein Fingerspitzengefühl gefragt. Das spielt mir hin und wieder einen Streich und macht es schwer, beim Lernen der Punktschrift an ein Vorwärtskommen zu glauben.

Trotzdem bleibe ich eisern bei meinem Vorsatz und den täglichen Übungen. Schnell stelle ich fest, dass mir das Lesen mit den Fingern bedeutend leichter fällt, wenn ich das tägliche Übungspensum in kleine Häppchen aufteile. Ich fange an, jedes Quäntchen freie Zeit in Lesezeit zu verwandeln. Auf diese Weise komme ich dann doch vorwärts, manchmal langsam, manchmal zügiger.

Wie lange ich einen Buchstaben einübe, darüber entscheidet mein Gefühl. Immer wenn die Ungeduld sich meldet, wage ich mich an die nächste Punktekombination heran. Hin und wieder blättere ich ein paar Seiten zurück und wiederhole meine Tastübungen, bis ich erneut bei dem zuletzt gelernten Buchstaben angelangt bin.

Ganz ohne Hilfe geht es nicht.

Nach und nach wird das Üben zur Gewohnheit. Natürlich gibt es auch frustrierende Momente. Aber wenn ich nach mehrmaligem Tasten immer noch nicht schlau aus einer neuen Punktekombination geworden bin oder mir etwas nicht logisch erscheint, greife ich zum Telefon. Denn auch, wenn ich mit dem Lehrbuch autodidaktisch lerne, bin ich nicht auf mich allein gestellt.

Mir steht eine ehrenamtliche Mitarbeiterin des Selbsthilfevereins für Blinde und Sehbehinderte, bei dem ich Mitglied bin, hilfreich zur Seite. Wann immer ich sie brauche, rufe ich sie an und stelle ihr meine Fragen. Diese engagierte Mitarbeiterin war es auch, die mir das Selbststudium empfahl, nachdem ich lange vergeblich nach einem Blindenschriftkurs in erreichbarer Nähe gesucht hatte. Und sie war mir bei der Suche nach einer gebrauchten und damit einigermaßen erschwinglichen Punktschriftmaschine behilflich. Denn mit dem Lesen bringe ich mir gleichzeitig das Schreiben bei.

Wie motiviert man sich, lesen zu lernen, wo es doch Hörbücher gibt?

Ich liebe Bücher und bin dankbar für jedes einzelne, das auch als Hörbuch verfügbar ist. Doch Hörbücher haben einen Nachteil. Sobald der Nachwuchs aus der Schule eintrudelt, ist es mit der Ruhe vorbei und an ungestörten Hörgenuss nicht mehr zu denken. Und exakt dieser bis zu dreistimmige Kanon treibt mich beim Erlernen der Punktschrift mächtig an. Denn ich träume davon, ein Buch lesen zu können, ganz gleich, wie groß der Krawall um mich herum ist. Ein Punktschriftbuch kann keiner übertönen!

Um diesem Ziel näherzukommen, melde ich mich bei der Deutschen Zentralbücherei für Blinde an, wo man Bücher in Punktschrift ausleihen oder kaufen kann. Ich kaufe mir eine Kurzgeschichte für Anfänger mit extra großen Zeilenabständen. Das sind machtvolle Motivatoren.

Der Lohn des Durchhaltens.

An Ostern ist es geschafft! Ich sitze am Küchentisch und klappe das Übungsbuch zu. Ein Gefühl des Triumphs breitet sich in mir aus. Ja, ich habe durchgehalten – von Oktober bis Ostern. Jeden einzelnen Tag habe ich geübt, von Montag bis Sonntag, und habe mich allen Widrigkeiten zum Trotz nicht von meinem Ziel abbringen lassen.

Nun kenne ich alle Zeichen der Blindenvollschrift. Jetzt bin ich in der Lage, die Kurzgeschichte zu lesen, die ich mir gekauft habe. Langsam zwar, mit der Geschwindigkeit einer lahmen Schnecke, aber ich kann sie lesen!

Man lernt nie aus.

Den Sommer über lese ich täglich Punktschrift. Doch bald merke ich, dass viele Bücher nicht für mich geeignet sind: Sie wurden in Blindenkurzschrift erstellt – und deren Kürzel kenne ich – bis auf wenige Ausnahmen – nicht. Also wage ich mich im Herbst an die nächsten Lektionen heran.

Jetzt gilt es, die verschiedenen Kürzungen auswendig zu lernen, ganz ähnlich wie Wörter einer Fremdsprache. Und genau wie ein fremdsprachiges Wort kann auch ein einzelner Buchstabe unterschiedliche Bedeutungen haben, je nachdem, an welcher Stelle im Wort er verwendet wird oder ob er gar ein ganzes Wort ersetzt. Nur ein Beispiel: Das X dient der Kürzung von „ex“, „mm“, „nis“ oder „immer“.

Was anfänglich wie Hexerei auf mich wirkt, wird mit der Zeit und der Übung immer klarer. Allerdings erschließt sich mir bei so mancher Kürzung die Logik nicht, so dass mir nur übrig bleibt, diese Kürzel ohne nachzudenken stur auswendig zu lernen. Um die Jahreswende herum bin ich dann in der Lage, einen in Kurzschrift verfassten Text zu lesen. Am Ziel bin ich dennoch nicht angelangt:

Nach einer Reform der Kurzschrift ist seit Anfang 2018 ein korrigiertes und ergänztes „Regelwerk zur Brailleschrift im deutschsprachigen Raum“ in Kraft. Und sobald es eine Übersicht über diese Veränderungen und Neuerungen gibt, heißt es für mich erneut: lernen!

Schlusswort von mir: An dieser Stelle möchte ich Bettina recht herzlich danken für ihren interessanten und vor allem anschaulichen Einblick in ihrenLernalltag. Ich denke sie hat hier sehr gut deutlich machen können, was es heißt die Punktschrift autodidaktisch zu erlernen. Ich ziehe jedenfalls meinen Hut vor ihr. Nicht nur weil sie die Vollschrift erlernt hat, sondern sich auch noch die Kurzschrift, mit über 300 Zeichenkombinationen, angetan hat! 😉

P.S.: Allgemeines zur Blindenschrift kannst du in meinem Beitrag Brailleschrift nachlesen.

Gefällt dir mein Beitrag? Dann teile ihn doch!

1 Kommentar

  1. Hallo, vor 1 Woche habe ich von meiner Augenärztin die Diagnose grünen Star bekommen. Ich war sehr geschockt. Noch kann ich sehen aber ich möchte nicht unvorbereitet in die Blindheit gehen. Darum habe ich mich jetzt schon mal mit der Blindenschrift auseinander gesetzt. Ich bin 68 Jahre und möchte gerne wissen welche Bücher Sie mir empfehlen. Danke für Ihre Mühe! Waltraud Verheyen

Kommentar absenden

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert